Transfer
08.04.–17.04.2016
Haus zur Glocke: Transfer
Das Haus zur Glocke in der Seestrasse von Steckborn ist Ausgangspunkt für das Projekt Transfer. Der Titel umschreibt den Wandel des leerstehenden Riegelbaus über dessen Sanierung bis hin zur Belebung des Ortes mit kulturellen Interventionen und darüber hinaus. Diese Bewegung ist stets in die Zukunft gerichtet und spricht von einer Offenheit, die sich den jeweiligen Situationen anpasst. In diesem Sinn hat die Künstlerin Judit Villiger dieses Gebäude im April 2014 gekauft und mit dem Blick auf das Nötigste saniert. Durch Abtragen von Einbauten wurden offene und durchlässige Räume geschaffen, die flexibel nutzbar sind. Das ausgebaute Dach lädt als Denk- und Arbeitsort ein, das Erdgeschoss stellt mit seinem Schaufenster und dem Eingang die Verbindung zur Strasse und zur Öffentlichkeit her. Der 1. Stock dient der Erschliessung mit Küche und WC für temporäres Wohnen und Essen.
Durch den Erhalt des Hauses und den sorgsamen Umgang mit der alten Substanz wird das Stadtbild wesentlich aufgewertet, auch wenn es sich um einen winzigen Parameter handelt. Zugleich tritt das alte Haus bewusst neu auf: das Schaufenster, die Tür sowie der Schriftzug erhalten eine neue Gestalt. Um diese Brücke von Alt zu Neu, von Tradition und Innovation, von Privat und Öffentlich geht es im weitesten Sinn im Projekt Transfer, das nun mit den kulturellen Aktionen vor Ort fortgesetzt wird.
Wie wird das Haus zu einem lebendigen Ort? Wie entsteht ein kultureller Austausch in der Stadt Steckborn, die abgeschieden von grossen Zentren, am Rand vom Thurgau und an der Grenze zu Deutschland liegt?
Historische Künstlerkolonien auf dem Land, die seit der Verstädterung und der Industrialisierung im frühen 19. Jahrhundert aus mehr oder weniger romantisch motivierten oder gar politischen Gründen entstanden, können als Vorbild dienen. Doch bei der Idee von Judit Villiger spielen weniger der Reformgedanke und der Rückzug von der Stadt aufs Land eine Rolle, als vielmehr die kollektive Kreativität, die aus dem Zusammenkommen und der Konzentration an einem Ort entspringt. Bewusst sucht die Initiantin den Dialog über die Grenzen der Kunst und der Region hinaus. Sie lädt Künstlerinnen und Künstler aus verschiedenen Sparten ein, um ein paar Wochen vor Ort zusammen zu arbeiten. Literatur trifft auf Objekte, Musik trifft auf Kunst und Kunst trifft auf Performance. Darüber hinaus werden die Synergien vor Ort genutzt und kulturelle Orte wie das Heimatmuseum, die Turmstiftung und das Theater Phoenix einbezogen.
Nicht nur in der Produktionsphase, auch an den zwei Veranstaltungswochenenden steht der Austausch im Zentrum. Die Küche im Haus zur Glocke wird zum Austragungsort von Gemeinschaft: Kulturschaffende kochen für die Gäste. Es entsteht ein Ort zum Verweilen und Diskutieren. Kochen und Kunst liegen auf der gleichen Ebene und erfordern ein persönliches Geschmacksempfinden. Das Essen ermöglicht einen alltäglichen Zugang zu Kunst und lädt darüber hinaus zur Partizipation und zum Teilen der Gemeinschaft ein. Bereits in den 1970er Jahren anerbot sich das Eckrestaurant von Gordon Matta-Clark in New York als Plattform und Arbeitsort für Künstler.
Die Künstlerin Judit Villiger sucht mit dem Austausch und der Öffentlichkeit eine Zukunft für das Haus. Indem sie das Privathaus zweimal im Jahr öffnet, exponiert sie sich. Das Projekt steht und fällt mir ihr. Das Machen, auch wenn es in kleinem Rahmen passiert, wird zu einem politischen Handeln. Im weitesten Sinn bewirkt es etwas vor Ort und über die Region hinaus. Es entsteht ein Austausch über künstlerische Sparten hinweg sowie über Regionen und Landesgrenzen.
Annamira Jochim, März 2016